Über Onkel Fritz Kuder (geb. 1897 / gest. 1983) hatte ich ja schon im Beitrag "Die Kindstaufe" berichtet. Inzwischen habe ich alle veröffentlichten Geschichten von seinem Sohn Dieter erhalten (dafür herzlichen Dank). Die folgende Geschichte über einen Schulausflug nach Basel im Jahre 1910 wurde in den 1970er Jahren in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht und ist in der "damaligen Sprache" geschrieben. Viel Spass beim Lesen.
Schulausflug mit Sex (geschrieben von Fritz Kuder)
Mein Schulausflug fand im Jahre 1910 statt und schloß mit einem kleinen Erlebnis. Ich werde es am Ende meiner Ausführungen wahrheitsgetreu schildern, aber zuvor wollen wir wieder so ein bißchen durch jene Zeiten wandern. An der Schule in Adelhausen wurde die Jugend in zwei Klassen unterrichtet, die Kleinen am Nachmittag und die älteren Jahrgänge am Vormittag.
Der Unterricht wurde von einer Lehrkraft bewältigt. Diese Unterrichtsart verlangte vom Lehrer die Beherrschung des ganzen Lehrstoffes. Disziplinschwierigkeiten gab es nicht. Früher waren auch die Umwelteinflüsse auf dem Lande nur klein, Auto, Radio, Fernsehen, Kino, das waren damals noch unbekannte Begriffe. Durch das Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel war die Jugend ganz auf ihr Dorf angewiesen. Durch die enge Verbundenheit mit der Natur und dem Landleben gab man sich mit seiner Umwelt zufrieden und war glücklicher als die Jugend von heute, der materiell und geistig so viel geboten wird, daß sie es nicht verkraften kann und daher unzufrieden ist.
Man sollte nun, meinen, daß die Jugend von damals bei der Lehrstoffvermittlung zu kurz gekommen wäre. Im Unterricht legte man den Hauptwert auf die Grundkenntnisse: Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch Geschichte, Literatur und Geographie kamen nicht zu kurz. Durch die nach der Jahrhundertwende geringe Ablenkung der Jugend und die nur kleine Abwechslung im Dorfe selbst, ging man gerne zur Schule. Der Unterricht mit seinen Wissensgebieten war mal etwas anderes als die manuelle Landarbeit, er weckte das Interesse für schulische Dinge.
Wenn der Kreisschulrat kam
In der vorösterlichen Zeit kam fast in jedem Jahre der Kreisschulrat ins Dorf, um die Schule zu inspizieren und die älteren Jahrgänge zu prüfen. Sein Amtssitz war Schopfheim. Bis Maulburg konnte er mit dem Zug fahren, aber den Weg auf den Berg mußte er zu Fuß zurücklegen. Zu diesem Besuche wurden auch der Bürgermeister und die Gemeinderäte eingeladen. Zwei davon postierten sich hinter dem Rücken des Schulrates. Sie gaben den Prüflingen bei schwierigen Fragen durch lautloses Vorsagen und mit der Fingersprache Hilfestellung.
Der Ausflug 1910
Aber nun wollen wir den Schulausflug von 1910 noch einmal gemeinsam erleben. Die Schulausflüge wurden kurz vor der Schulentlassung durchgeführt. Mit der Unterklasse machte man meist eine Fußwanderung zur Hohen Flum oder zum Rötteler Schloß, manchmal auch nur zum Siebenbannstein. Die oberen Jahrgänge fuhren nach Zürich oder nach Basel. Am Vorabend machten die weiblichen Hausgeister den Proviant zurecht. Er bestand aus einem großen Stück Speck, ein paar Schnitten Bauernbrot und gekochten Eiern. Limonade als Standardgetränk kaufte man sich in der Stadt. Die begleitenden Gemeinderäte, fünf an der Zahl, nahmen gegen Bauchschmerzen noch, Kirschwasser mit. Die Buben verstauten ihren Proviant in den Rocktaschen und im "Rohr" (Botanisiertrommel) und die Mädchen in Mutters gestrickter Handtasche.
Das Zugfahren war die erste Abwechslung, und man war im Nu in Basel am Badischen Bahnhof. Von dort ging es per Tram durch die Stadt. Im Zoo konnten wir Tiere und Vögel, Reptilien und Anlagen nicht schnell genug sehen. Kaum war an einem Standplatz das Zeichen zum Weitergehen gegeben, stürmten wir wie eine wilde Horde zum nächsten Schauplatz. Mittlerweile hatten wir alle Hunger. An einem Limo-Verkaufsstand verdrückten wir mit einem Glas Limo den ersten Teil des Proviants.
Nun ging es zu einem der 23 Stadtmuseen, der Waffensammlung, die uns Buben am meisten interessierte. Nach diesem Museumsbesuch kam eine zweite Pause, natürlich auch ein zweites Futtern, aber für die Heimreise war es immer noch zu früh. Ja, und dann kam das, was der Grund für meinen Artikel bildete.
"Tingel-Tangel" am Klaragraben
Die Idee kam von den Gemeinderäten. Jedenfalls landeten wir im "Tingel-Tangel" am Klaragraben. Was das war und was da geboten wurde, wußte vorläufig niemand. Die Aufmachung paßte gar nicht zu unseren Bauernstuben, Vorne war eine Bühne, vor dieser ein roter Plüschvorhang und vor diesem saßen wir auf rotgepolsterten Stühlen. Aber ganz vorne platzierten sich die Herren Gemeinderäte, sozusagen mit der Nase am Plüschvorhang. Hinter uns der Herr Lehrer. Ein gutgekleideter Mann trat auf die Bühne und begrüßte uns. Darauf waren wir stolz, denn außer uns war niemand im Saal. Als erster kam dann ein Bodenturner. Seine Saltos imponierten uns gewaltig. Dann trat ein Zauberkünstler auf. Was er vorführte, erschien uns wie ein Wunder. Dem Karli zog er glatt zwei Hühnereier aus der Nase und dem Mariele ein langes buntes Tuch aus dem Ohr.
Nach diesem Herrgottskünstler wurde ein "Damenstimmenimitator" angesagt. Er trat in einem Damenkostüm auf und sang so hoch wie die "Callas". Nach dem Gesang nahm er den Damenhut und die Perücke vom Kopf und zeigte uns seinen militärischen Kurzhaarschnitt. Jetzt wußten wir, daß Imitator "Nachmacher" heißt.
Auf einmal schwirrten drei weibliche Wesen auf die Bühne. Die Blumen in den langen, herabhängenden Haaren waren mengenmäßig fast so groß, wie die übrige Bekleidung, denn das "Obengewand" bestand nur aus zwei kleinen Blumen, die kunstgerecht auf der Frauenzierde befestigt waren. Der übrige Teil des Oberkörpers war nackt. Der weiter unten sitzende Teil der Bekleidung war nach heutigen Begriffen ein "Mini-Mini-Ding". Ich glaube, viele von uns hatten wegen der Beichte die Augen halb geschlossen, denn die Neugierde war dann doch größer als die Angst vor einer Sünde. Aber unsere Gemeinderäte, sie waren es doch, die dem Lehrer den Besuch dieses Theaters vorgeschlagen hatten, sie saßen in der vordersten Reihe der roten Polstersessel und beugten sich noch soweit wie möglich nach vorne, um den "Engelkörpern" noch näher zu sein. Ihre Blicke flogen so schnell hin und her, wie sich diese Wundergeschöpfe bewegten, ein glückliches Lächeln begleitete sie. Das war doch mal etwas anderes als die kernigen Gestalten der Bäuerinnen.
Das bis jetzt Gebotene war aber noch nicht alles. Nach dem Auftritt der Tänzerinnen kamen noch einmal vier solch holder und hübscher Wesen, die mit ihren Straußenfederhüten und den bis zum Boden reichenden Kleidern nun wieder zuviel anhatten. Als sie aber einen schneidigen "Can-Can-Tanz" auf das Parkett legten, wurden wir bei den charakteristischen Figuren aufs neue halbrot.
Noch ein Geschehnis
Mit diesem Intermezzo gingen auch unsere Erlebnisse in Basel zu Ende, aber ich möchte noch ein anderes Geschehnis, das auch mit Basel zusammenhängt und nach den heute noch im Dorfe Adelhausen kursierenden Gerüchten wahr sein soll, kurz servieren. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts sollen drei Bäuerchen vom Dorfe gen Basel gewandert und gefahren sein. Angetan mit dem wollenen schwarzen Anzug, einem weißleinenen Hemd mit steifer Brust und derben Sonntagsschuhen trug auch jeder einen Eichenspazierstock, an dem eine getrocknete und mit Mehlsuppe gefüllte Schweinsblase hing, bei sich. In dieser seltsamen Aufmachung marschierten sie vom Badischen Bahnhof zum Zoo. Viele Tiere müssen wohl die Fracht gerochen haben, denn sie schnupperten immer wieder nach den Bauern hin.
Nach dreistündigem Wandern meldete sich auch bei ihnen der hungrige Magen. Also suchte man ein Lokal auf, denn zu der Suppe gehörte ein Glas Bier. Sie zogen hintereinander in das noble Restaurant, machten die Schweinsblasen los, stellten sie vor sich auf den Tisch, die Eichenstöcke zwischen die Knie und stützen sich darauf mit dem Kinn. Den schwarzen, breitgeränderten Hut behielt man nach ländlicher Sitte auf dem Kopfe. Der Geschäftsführer und die Kellner wußten vorläufig nicht, was sie mit den seltsamen Gestalten machen sollten. Dann kam der Ober. Man bestellte ein Glas Bier, aber als man daranging, die Schweinsblasen zu öffnen, um aus ihnen mit mitgebrachten Löffeln die Mehlsuppe zu verzehren, sagte der Geschäftsführer zum Kellner "Jo, was isch denn das, so öbbis het me in Basel no nit erlebt und das no in eusem fyne Local. Gang, bring diä drei in Schtall und gibene Heu". Der Ober verstand seinen Chef und stellte zu dem Bier ein Täfelchen, auf dem geschrieben stand: "Verlassen Sle bitte unauffällig das Lokal". Die drei Dinkelberger verstanden wohl, was damit gemeint war. Sie steckten ihre Löffel in die Rocktasche, banden die Blasen mit dem Suppenrest zu, hängten sie an den Stock und marschierten nach draußen. Zu Fuß zog man dann nach den "Langen Erlen" und verdrückte dort die kalte Schwarzwaldsuppe, diesmal ungestört.